Wege in die Nacht

6. bis 7. August 2018, ein Abend, eine Nacht und ein Morgen
Ein intensives, erlebnisreiches Solo auf der Suche nach Hünengräbern im Rückland des Endmoränenbogens Chorin, ca. 20 km. Die kleinen Bilder sind mit Klick zu vergößern

 

Steinsetzung
Sieht aus wie eine intakte Steinsetzung, eher aber heimatkundlich “nachgearbeitet”

 

Glückliche Hügel wo der Himmel die Erde küsst*

Die alten Waldstraßen sind gleichmäßig gepflastert mit Feldsteinen. Oder doch oft keine Feldsteine und pur Findlingsstücke, sondern Ergebnis mühevoller Steinschlägerarbeit an Steinen von Gräbern, die eine jahrhundertelange, dichte Besiedlung anzeig(t)en? Eigenartig kleine, dicht von Efeu überwucherte Hügel gibt es gleich bergauf von Liepe aus. Von denen, die ich im Ort treffe, hat noch nie jemand von hiesigen Hügelgräbern gehört. Ich bin hoffnungsvoll. Und siehe da, den Pfingstberg brauche ich gar nicht.

Ein Tal der vor- und frühgeschichtlichen Funde
Ein Tal der vor- und frühgeschichtlichen Funde
Die Arbeit der einstigen Steinschläger
Die Arbeit der einstigen Steinschläger
Beraubt: der Wächter
Beraubt: der Wächter
Ahnungslos privat vor der Geschichte
Ahnungslos privat vor der Geschichte

Da liegt eine erste Steinsetzstelle erst kürzlich herausgewühlt aus der Bergkuppe für einen Miniteich, der in dieser Sommerhitze längst stinkende Pflanzen ausgebrütet hat. Die unmittelbare Grube für eine Bestattung dürfte sich immer leicht ausheben lassen – vielleicht nur nicht tief genug, um zu erschrecken, wo man in seinem Feriendomizil sonnenbadet. Unterhalb am Hang ein riesiger Wächterstein, als bloßer Findling aufgerichtet unter weißen Maulbeerbäumen. Seine Ausrichtung West – Ost dürfte noch stimmen. Auch hier restliche Steine für einen längst versickerten und überwucherten künstlichen Tümpel genutzt.

Der Scherben
Der Scherben
Der Scherben
Der Scherben und Mergelsplitter
Kreide, Feuerstein und eine kleine Platte mit Einschluss
Kreide, Feuerstein und Platte mit Einschluss
Der Glücksstein als Kreisel
Der Glücksstein als Kreisel

Mein Blick ist nun geschärft für die Besonderheiten dieser Landschaft und wird mehrfach traurig belohnt: ahnungslose, achtlose Zerstörungen von Steinsetzungen seit Jahrhunderten. Nur kurz vor Brodowin sieht es einmal aus wie versuchte Raubgrabung. Ich bücke mich nach winzigen grauen Scherbensplittern. Ein größerer, dickwandiger Scherben mit deutlicher Gefäßwandung und einem kleinen Buckel – Rest einer Musterung. Schwarzgraue, geglättete Oberfläche. Handgemacht, die Innenwandung ist unregelmäßig, grob, rauwandig, kalkhaltig – völlig undenkbar für einen anderen Gebrauch als eine Urne für den Leichenbrand. Direkt daneben ein Glückssteinchen. Es werden alle abwinken: kein Artefakt. Wenn keine kultische Grabbeigabe so doch ein kreiselndes Zaubersteinchen für mich von den Geistern…

zerstörtes Hünengrab
Freigelegt, zerstört
Hügel, die mehr als Landschaft sind
Steinpackung
...da steht ein Lindenbaum
…da steht ein Lindenbaum
Gedenkstein
Gedenkstein

Noch ist es zu früh, um hier ein Nachtlager zu wählen. In Brodowin lasse ich einen letzten Tropfen Kefir ayurwedamäßig wirkungsvoll mit Wasser auffüllen, bringe die Verdauung mit halbreifen Pflaumen auf Trab und gerate auf meiner Spurensuche auf unverhoffte Verbindungen von Vergangenheit und Gegenwart: ein Stein am Wegesrand – dem Schriftsteller Reimar Gilsenbach 1926 – 2001 von seinen Brodowiner Freunden gewidmet. Das passt – eine Erinnerung auch an Lyalya Kuznetsova und die Rom, das wandernde Volk.

Ich bin weder im Totalreservat Plagefenn noch im NSG und doch / gerade daher in einer Bilderbuchlandschaft. Ach je, Bilder- und Kinderbuch: “Wie die Vögel das Zicklein retteten” von Sergej Michalkow – sehe die Wölfe blutrünstig bereits über die Oder schwimmen… Noch stolzieren allerdings an die 20 Störche nahrungssuchend auf dem Feuchtgrünland hinter einer Mähmaschine. Etwas zu früh der Schnitt für die Futterqualität, aber der Klimawandel erfordert auch hier flexibel zu entscheiden. Woher ich das weiß? Vom Spitzen-Landwirt aus Brodowin. Wenn ich geahnt hätte, wer da auf seinem Rundgang mit einer Praktikantin nun zufällig auch mich so kenntnisreich und unterhaltsam zu informieren weiß… Aber mein Interesse an Brodowin war bisher höchst gebremst von den Preisen der biologisch-dynamisch erzeugten Ökodorfprodukte.

 Sicher keine Lesesteine
Sicher keine Lesesteine
Meliorationsmanie oder hydrologische Sanierung?
Alte Meliorationsmanie oder Sanierung?
Total ökologisch
Total ökologisch
Gegen die Mittagshitze dicht gedrängt, Schwänze wedeln
Gegen die Mittagshitze dicht gedrängt, Schwänze wedeln

Jetzt erfahre ich vom überraschenden Aufblühen eines Sommer-Adonisröschens nach dem Mähen (also nicht das, zu dem im Frühjahr an die Oder gepilgert wird), einiges über die geologischen Strukturen vor meinen Augen, über die veränderte Landschaft nach der intensiven und großflächligen DDR-Landwirtschaft. Erstaunlich: der so natürlich wirkende Verbund kleiner Biotope durch Hecken und Gehölze ist nachträgliche Pflanzung. Die Kleinteiligkeit der Landschaft war längst zerstört. Vergessen zu fragen hab ich, wohin die Gülle der vielen Rinder fließt, wenn nicht auf die Felder.

Hügel, die mehr als Landschaft sind
Hügel, die etwas anderes als Landschaft sind
Hecken, Gehölze, Offenland und vielleicht Drumlins in der Ferne
Wirklich “Drumlins” hinter Hecken, Gehölzen, Offenland?
Wenn die Welt schon dunkel ist: die Seen leuchten
Wenn die Welt schon dunkel ist: der Brodowinsee leuchtet
Schattenwächter
Schattenwächter

Die gestörte Achse

Die Kuppe auf der Leitlinie des Wildgänsezuges
Die Kuppe auf der Leitlinie des Wildgänsezuges

Schon nach 20 Uhr bin ich gänzlich allein auf dieser höchsten Erhebung mit Blick Richtung Brodowinsee, weit und breit vollkommene Stille, höchstens ein Kranichruf. Schade, genau auf diese kahle (fast Berg-)Kuppe wurden 2000 und 2004 zwei Bäume gepflanzt. Freilich, es ist kein ausgewiesenes Naturschutzgebiet. Die Landschaft darf verwandelt werden im Sinn und nach dem Vorstellungsvermögen von uns Kulturmenschen. Deren Nacht ist nur noch denkbar für Disco, den abendlichen Naturfilm und den ungestörten Schlaf hinter zugezogenen Fenstern (ohne Hundegebell wie mir später am Bahnhof erzählt wird), ab und zu ein Lagerfeuer der Jugend. Mit dem kleinen Gartenblick wird also die Natur für das zivilisierte Humankapital und mit den Biedermeiervorstellungen à la Ludwig Richter domestiziert: verbaut ist genau die Lichtschneise von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang, die unsere längst vergessenen Vorfahren als heilig empfunden haben dürften. Und der Magerrasen beginnt zu leiden.

Die gestörte Achse
Sonnenuntergang – eine schmale, langgestreckte geographisch-topographische Ausformung der Erdoberfläche
Sonnenaufgang. Copyright K.G.Brandler
Sonnenaufgang – die Linie ist unterbrochen von den gepflanzten Bäumen, aber zur Zeit noch mit etwas verschobenen Standpunkten sichtbar

Bis auf die frei gelegten Kuppen der gegenüber liegenden Hügelhöcker (die Bezeichnung als Drumlins ist umstritten) bin ich nicht gekommen. Auch da bin ich sicher – sie korrespondieren ursprünglich alle nicht nur im geologischen Aufbau und mit den Besonderheiten ihres kontinentalen Trockenrasens miteinander, sondern ebenfalls mit den kosmologischen und astronomischen und von daher mit der ganz anderen sozialen Funktion, die diese Hügel einst für vor allem frühe slawische Siedler gehabt haben werden.

Die Nacht nicht nur der Sterne

Die Nacht
Letzter Schimmer des Tages, heller und heller werden die Sterne – auf meinen Fotos nicht zu sehen

Eingeschlossen bin ich auf der Hügelkuppe von einem hellen, grauen Ring über dem Horizont. Lichtverschmutzung oder an diesem Tag, zu dieser Jahreszeit, eine nicht voll dunkel werdende Nacht? Nordost begrenzt der rot blinkende Mauerzaun der Windräder die Unendlichkeit wie ein billiges Spielkasino. Das ist gleich hinter dem Parsteinersee, diesseitig schützt das Biosphärenreservat.
Stoßweise kommt der kalte Wind als bewege nicht ein Schmetterlingsflügel das Universum, sondern das jeweilige Flugzeug am Himmel über mir. Die Flugzeuge sind in der absoluten Stille der Nacht zu hören, obwohl die meisten nur Pünktchen sind wie kleinste Sterne.
Über Eberswalde quält sich ein Hubschrauber langsam vorwärts: auch nur ein kleines rotes Lichtlein, trotzdem: battabatttabata. Kürzlich gab es auf wetter.de eine Grafik von der dauernden Dichte der Flugzeuge über der Erde. Immerhin, ich sehe noch die Sterne.
Mittig über mir teilt die Milchstraße wie ein erzgebirgischer Schwibbogen den Himmel in zwei Hälften. Im Laufe der Nacht löst sie sich auf in stumpfgraue, kosmische Nebelhaufen.
Ab und zu schlummere ich ein wie eine Maus unter einer behütenden, dunklen Käseglocke. Der Meteoritenschauer der Perseiden bleibt aus: selten zwischen einer ganz seltenen Sternschnuppe ein ganz seltener, leuchtend heller Meteorit. Zum Wünschen zu wenig und zu plötzlich. Vielleicht gut so. Ich erinnere mich an den 13. August 1961 an der Ostsee: sie fielen massenhaft, schreckerfüllt: Mauerbau…

So war es ungefähr: Großer Wagen, Kassiopeia und Mond hab ich erkannt :)) Richtung NO wurde die Sicht diffus
So war es ungefähr: Großer Wagen, Kassiopeia und Mond hab ich erkannt :)) Richtung NO wurde die Sicht diffus

Als irgendwann nach Mitternacht tief über dem Horizont wie doppelt aufgeklappt und rotglühend eine Scheibe am Himmel erscheint, schreien die Kraniche auf. Sonnenaufgang? Nee, ein roter Mond – irgendwie gefährlich. Ich denke sofort an Klimawandel und die angekündigten 40°. Was macht die Sonne da gerade mit dem silbernen Mond?
Das Chaos am Nachthimmel kann ich nicht ordnen. Neben dem Baum rechts steht die ganze Nacht ziemlich bewegungslos der Große Wagen – klar, letztlich fehlen ihm die Räder an den Achsen. Den Arabern soll das Sternbild einen Sarg bedeutet haben, dem die Trauernden voraus gingen. Höchst einleuchtend und passend zu meinen Gedanken in dieser Landschaft der zahllosen Steinmale und Urnenfunde.

Sonnenaufgang. Copyright K.G.Brandler
Der Morgen
Die erste Sonne. Copyright K.G.Brandler
Das Leuchten der Felder

Das wilde Denken

Die Morgendämmerung färbt den Himmel wie der frühe Abend noch einmal zu einem Aquarell von unzähligen und unvergleichlich zarten Pastelltönen. Schon von weitem kündigt sich mit Geschrei ein Schwarm Graugänse an, erst nur Punkte in der Schneise des südwestlichen Waldes. Meine nicht mehr gänzlich kahle Hügelkuppel scheint auf ihrer regionalen Leitlinie zu liegen. geradewegs Richtung Sonnenaufgang. Als ich abends als Störpotential stand, drehten die scheuen Gänse sofort ab. Jetzt fliegt schon wieder ein zweiter Zug nicht viel mehr als einen Meter über mich hinweg. Das Sausen der Schwingen ist zu hören. Mythologische Wesen auf unsichtbaren Linien und auf der Reise zwischen Diesseits und Jenseits?
Logik und naturwissenschaftliches Wissen schalten sich zumindest bei mir aus – den Göttern sei Dank. Emotionen, für deren Entstehen nicht nur die Chemie noch unzureichende Erklärungen hat, sind stärker. Wo Empathie weit gefächert ist, kann es nicht schwierig sein, sich in einen Tierkörper hinein zu spüren – jenseits von esoterischen Kaspereien.

Leitlinie, unterbrochen an den gepflanzten Bäumen
Leitlinie, unterbrochen an den gepflanzten Bäumen
Vogelrassel aus dem Gräberfeld bei Krieschow, Archäologisches Landesmuseum Brandenburg
© verlinkt: Vogelrassel, Archäolog. LMuseum Brandenburg
Der Pfad Richtung NO
Der Pfad Richtung NO
Die Störche morgens
Die Störche morgens

Wie oft nur unklar sind in meinem Gedächtnis aus dem Archäologischen Landesmuseum Brandenburg kleine Gänse aus Ton gespeichert, als Grabbeigaben und wohl auch als Pfeifen – mit Vorsicht interpretiert als Kinderspielzeuge. Mir fallen das Märchen von der goldenen Gans und Nils Holgersson ein: das Gefühl, das durch den ganzen Körper zieht – fort, fort von hier – mit den Wildgänsen in eine bessere Welt – kosmische Vorstellungen und irgendwann religiös-schamanistische, nichts personifiziert. Bei den Ukrainern erhielt sich die mythische Vorstellung von einem glückseligen Lande, in das die Vögel im Herbst fliegen und in dem die Toten wohnen (zitiert nach dem Ethnologen S.A. Tokarew, Die Religion in der Geschichte der Völker. Dietz Vlg. Berlin 1968, S. 260). Dem ägyptischen → Gott Amun werden zwei Tiere zugeordnet: der Widder und die Gans. Vermutlich zeigt die Gans ihn in seiner Funktion als Urgott.

Die glücksbringenden Störche – Götterboten bei den Germanen – müssen schon länger munter sein. Kräftesparend tief und unhörbar sind sie weit unter der Hügelkuppe heran geglitten und grasen bereits wieder die frisch gemähten Wiesen ab.

Rotwild am Morgen: Fehlanzeige, obwohl der Wind vom Wald her weht. Nur der Fuchs schnürt seitlich vorbei, mich witternd und ohne Beute gen Wald. Aber dort muss er ziemlich frisch eine Hohltaube (keine Berliner Flugratte) abgeschleppt haben. Oder hatte ein Raubvogel zugeschlagen? Die Federn habe ich nicht untersucht.

Versteckt hinter dem Grünland
…versteckt hinter dem Grünland
Dahinter der Rosinsee
Der Rosinsee
Rückweg durch das Rosinfenn
und zurück durch das Rosinfenn, eins der geschützten Waldmoore
Ich geh dann mal schwimmen. Copyright K.G.Brandler
Ich geh dann mal schwimmen

Zu Haus google ich nach dem Wildgansschrei, einem Gänsepfeifchen, einem archäologischen oder auch einem zur Jagd. Es wird mir ein  geschmettertes Soldatenlied angeboten, enstanden 1917 an der Westfront, gesungen von einer Wehrmachtsformation 1936, eine andere Version von Heino – der schafft das allein.  Kein Wunder, wenn es den Deutschen zwar nie die Sprache, aber doch seit fast 80 Jahren (also wohl auf ewig) das Singen verschlagen hat.
Nee, dazu kein Link. Aber etwas anderes gefunden, → Wer hören kann, der höre HIER!

*leicht abgewandeltes, geflügeltes Wort der Rom
Mein Rückweg verläuft ähnlich wie → HIER.

2 Kommentare zu “Wege in die Nacht

  1. Liebe Karla,
    was Du immer wieder für tolle, interessante und wundersame Wanderungen unternimmst!
    Ich verstehe das nicht mit dem “Pfad”, “die Lichtschneise von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang, die unsere längst vergessenen Vorfahren als heilig empfunden haben dürften”.
    Was ist das – wirklich ein “Trampelpfad”, ein Weg? Oder eine Steinreihe?
    Und Sonnenauf- bzw. -untergang dürften doch nur einmal (zweimal?) jährlich bei genau diesen Horizontstellen stattfinden?
    Herzlich grüßt Dich
    Jutta

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